AUSSIEDLUNG = DEPORTATATION

DEPORTATION = GHETTO

AUFSTAND=WIDERSTAND

„AUSSIEDLUNG“

Oh die Schornsteine! 

Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub –

Wer erdachte euch und baute Stein auf Stein

den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

Aus dem Zyklus:

„In den Wohnungen des Todes“

Nelly Sachs 1944

„AUSSIEDLUNG = DEPORTATION“

Gedanken zu einer Ausstellung, die ein Realsymbol ist. 

Erinnerung und Vergegenwärtigung des menschlichen Schicksals in diesem Jahrhundert sind zentrale Begriffe im künstlerischen Schaffen Alexander M. Winns. Doch es ist nicht einfach, sich dem Thema seiner Kunst zu nähern, denn er greift Verdrängtes und Vergessens auf.

Zu sehen sind bearbeitete Fotos von verfolgten Juden im 20. Jahrhundert, Ghettos und Synagogen.

Keines hat einen Titel. Mit Hilfe eines Farblaser-Kopieres werden die Vorlagen blau eingefärbt. In einem weiteren Schritt sind die Farbkopien auf große Klarsichtfolien, „Duratransfolien“ übertragen worden. Doch was wird mit diesem, die moderne Technik radikal gebrauchenden und ausnutzenden Verfahren erinnert und vergegenwärtigt.

Eine erste Antwort finden wir im Titel der Ausstellung.

„AUSSIEDLUNG“, ein an sich als harmlos klingender Terminus, wurde in nationalsozialistischen Sprachgebrauch als Umschreibung für die planmäßige, in weiten Teilen industriell bewerkstelligte Massenvernichtung von sechs Millionen Menschen, vornehmlich europäischer Juden verwandt.

Heinrich Himmler sagte in einer Rede vor hohen SS-Offizieren in Poznán am 4.10.1943:

„Ich beziehe mich auf die Aussiedlung der Juden, auf die Ausrottung des Judentums. Die meisten von Ihnen werden erlebt haben, was es heißt, hundert Leichen nebeneinander liegen gesehen zu haben. Oder auch fünfhundert oder tausend Leichen nebeneinander. Dies verkraftet zu  haben und unsere Anständigkeit dabei bewahrt zu haben, das ist es, was uns hart gemacht hat. In unsere Geschichte ist es ein Ruhmesblatt, wie es noch nie geschrieben wurde und niemals geschrieben werden wird.“

Alexander Merian Winn, Jahrgang 1958, verdrängt diese historischen Tatsachen nicht. Schon seit Jahren beschäftigt er  sich mit dem Schicksal der ehemaligen jüdischen Mitbürger. Besonders in Berlin, wo er zwischen 1988 und 1995 lebte und arbeitete, bekam dieser Teil der deutschen Geschichte eine solche Realpräsenz für ihn, dass die künstlerische Transformation in Realsymbole zu einem Hauptthema seiner Kunst wurde. 

Er konnte die organisierte Massenvernichtungen in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern nicht als
„Betriebsunfall der Geschichte“ ad acta legen;

zu deutlich waren für ihn, der hinsehen wollte und konnte, die Spuren. Eine wichtige Arbeit, wo er hunderte blau gefärbte Fotos auf ca. 1,50 m hohen, dünnen Kupferdrähten befestigte und wie ein Kornfeld auf dem Gelände des Bahnhof unter der Pulitzer Brücke positionierte, gab, lange vor dem abstrakten Erinnerungsmal, das heute auf der Brücke steht, den Deportierten ihr Gesicht wieder. 

Dabei kommt es ihm nicht darauf an, Vergangenheit zu „illustrieren“, sondern aus der Erinnerung an Vergangenes eine Vergegenwärtigung, ein Realsymbol zu erschaffen, wie es nur intersubjektive Medien in der Kunst ermöglichen. 

Den Verlust bzw. das Fehlen Tausender Nachbarn sichtbar zu machen, ist Alexander M. Winns künstlerische Intention. Weit entfernt von akademischer Selbstbespieglung stellt sich diese Kunst dem Übermaß an Grausamkeit in diesem Jahrhundert, ohne in voyeuristische Distanzlosigkeit zu verfallen. Diese Gefahr besteht bei Alexander M. Winns deswegen nicht, da er eine innere Verbundenheit und Achtung gegenüber den Opfern fühlt. 

Erinnern und Vergegenwärtigen ist das Wenigste, was heute lebende Menschen ihnen schuldig sind. 

Johann Baptist Metz formuliert dies so:
„Ich plädiere für eine, wenn ich so sagen darf, moralische Auffassung von Tradition: man kann der Geschichte nur trauen, ihr nur dann Maßstäbe für das eigene Handeln abgewinnen, wenn man die Niederlagen in ihr nicht leugnet und die Katastrophen nicht beschönigt.

Eine Geschichtsbewusstsein haben und aus ihm zu leben versuchen heißt, gerade den Katastrophen nicht ausweichen, heißt auch, jedenfalls eine Autorität niemals aufzukündigen oder verächtlich machen: die Autorität der Leidenden. Dies gilt in unsere christlichen und deutschen Geschichte, wenn irgendwo, für Auschwitz. 

Das jüdische Schicksal muss moralisch erinnert werden – gerade weil es bereits historisch zu werden droht.1 

Die Kenntnis über das nationalsozialistische Denken und Handeln und dessen Folgen ist für die Nachgeborenen notwendiger Teil der Identität (das wäre ein sinnvoller Begriff der Erbsünde), auch wenn dies heute vielfach verneint wird.

Die Juden hatten in den Ghettos und Vernichtungslagern mit der Aussicht auf den sicheren Tod Zeugnisse ihres unsäglichen Leidensweges gesammelt und versteckt.

 „Es genügt mir, wenn die zukünftigen Generationen unserer Zeit gedenkt [ … ].

Wir glauben, dass wir ein Kapitel unserer Geschichte geschrieben haben.

Dies ist wichtiger als das eine oder andere Leben.

Ich weiß mit Sicherheit, dass dies die treibende Kraft in unserem Leben war.

Was wir nicht in die Welt herausschreien konnten, das haben wir vergraben in die Erde. Möge dieser Schatz in gute Hände geraten, möge er bessere Zeiten sehen, möge er die Welt aufmerksam machen auf das, was hier im 20.Jahrhundert sich ereignet hat.“

(Neunzehnjähriger Junge, der Archivunterlagen im Warschauer Ghetto versteckte als die Transporte
ins Vernichtungslager Treblinka begannen).2

In Auschwitz wurde in der Asche rund um die Krematorien unzählige versteckte Dokumente gefunden. Eines lautet: 

„Lieber Freund, suche alles hier ab, jeden Zoll des Erdbodens. Dutzende von Dokumenten sind hier in ihm vergraben, meine eigenen und die von vielen anderen. Sie werden ein Licht werfen auf das, was hier geschah. Auch viele Zähne sind hier vergraben. Wir, die Kommandos (Juden, die ihre eigenen Landleute in den Gasöfen verbrennen mussten und wenig später selbst dort umkamen), haben sie absichtlich über den ganzen Erdboden verstreut, so viele wie möglich, damit die ganze Welt auch körperliche Spuren von den Millionen von Menschen finden wird, die hier getötet wurden.

Wir selbst haben alle Hoffnung aufgegeben, den Augenblick der Befreiung zu erleben.“3

Erinnerung und Vergegenwärtigung sind für A. M. Winn Movens seiner künstlerischen Arbeit, doch weiß er,
dass beides nur fragmentarisch gelingt. Das Lichtbild (OH-Folie, Dia, Film etc.) ist für ihn die adäquate Ausdrucksform der Vergegenwärtigung, das Realsymbol, das den Grenzbereich zwischen geistiger und materieller Existenzform sichtbar macht.

Das Lichtbild ist als durchsichtiges Porträt einerseits ein materielles Zeitdokument andererseits auch schon durchsichtige, sich wie „Rauch“ auflösende Spur kurz vor dem Vergessen. Das Vergegenwärtigen beinhaltet wie das Erinnern die Präsenz der Vergangenheit, die jedoch durch geschichtliche Brechung und subjektive Bedingtheit verwischt ist.

Es ist zu gleich Abbild, Abstraktion, zeitgebundene Bearbeitung und Projektion von Vergangenheit. In den Bildern Alexander M. Winns ist die Differenz zwischen konkreter (vergangener) Wirklichkeit und gebrochener aktueller Vergegenwärtigung als Erinnerungen sichtbar gemacht. Die Zeit lässt die Erinnerung verblassen. Dieser (zunehmende) Verlust  wird mit Hilfe von Winns diaphanen „Folien“ optisch in die Gegenwart transportiert, eine Sichtbarmachung, die durch die Eindringlichkeit der Farbe BLAU verstärkt wird und die Neugier des Betrachters immer aufs Neue mit Emphase in die Bilder hineinzieht. 

BLAU ist für Winn zugleich ein Hinweis auf den distanzierenden Modus des Erinnerns und Vergegenwärtigens. Er zeigt immer wieder Menschen, Individuen, die, im Ghetto oder Vernichtungslager, auf ihre „AUSSIEDLUNG“,  d.h. Auslöschung hin leben.

 Das antizipierte und später reale „Nicht-Mehr-Vorhandensein“ dieser Personen wird ausgedrückt durch das Wegnehmen  von Konturen und Farbschichten (keine Übermahlungen), das Übriggebliebene erscheint zum Teil mit sogenannten „Ausblendung“ versehen, die einen Verlust von Identität, Individualität sowie Geschichte sichtbar machen.
In einigen der blauen Bilder sind Balken oder „Körper“ eingefügt. Sie sollen den Blick in Bildgeschehen lenken.

Diese „Räume“ blenden einerseits aus, verstärken oder trennen auch einzelne Personen und Handlungen im Bildraum.
Doch das BLAU hat noch eine weitere, transzendierend religiöse Dimension, die in einem berühmten Celan-Gedicht ausgedrückt ist. 

Mandorla

 In der Mandel – was steht in der Mandel?

Das Nichts.

Es steht das Nichts in der Mandel.

Da steht es und steht.

 Im Nichts  wer steht da? Der König.

Da steht der König, der König.

Da steht er und steht.

Judenlocke, wirst nicht grau.

Und dein Aug – wohin steht dein Auge?

Dein Auge steht der Mandel entgegen.

Dein Aug, dem Nichts stets entgegen.

So steht es und steht.

Menschenlocke, wirst nicht grau.

Leere Mandel, königsblau.4 

Mit dem Gebrauch einer modernen Vervielfältigungstechnik, dem Fotokopieren, wählt Alexander M. Winn eine nahezu perfekte Form für seine Realsymbole der Erinnerung. Die emotionslose Anwendbarkeit und Benutzbarkeit  der Technik, verweist so auf die Rolle der Technik in den Vernichtungslagern, auf die Verbrennungsöfen, denn ein technisches Gerät
ist gegenüber seinem Gebrauch neutral.

Winn liefert sich der Technik aber nicht völlig aus, auch wenn sie für ihn wegen ihres Symbolwertes unverzichtbar ist.  Er bearbeitet die Kopien, gibt ihnen ein individuelles Angesicht, verweist aber auch durch bestimmte Negationen auf die Auslöschung jeder Individualität in den Massenvernichtungsmaschinerien.

Diese Realsymbole Alexander M. Winns sind noch aus einem anderen Grund irritierend. Wenn die abgebildeten Personen nicht gerade durch identifizierbare Zeichen wie Judenstern oder das Hakenkreuz unzweifelhaft historisch zu verorten sind, könnten sie auch die angstvoll Verzweifelten aus einem europäischen Asylantenheim unserer Tage darstellen.

Die Bilder sind somit transhistorisch erfahrbar. Sie beschränken sich nicht auf die Erinnerung und Vergegenwärtigung einer bestimmt Epoche, sondern zeigen die Gefährdetheit und Verletzbarkeit des Menschen als ein zeitübergreifendes Phänomen, ohne die individuelle Not zu egalisieren.

Der Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz rief wohl nicht nur bei Alexander M. Winn die erschreckende „Erkenntnis“ hervor, dass bestimmte Ausgrenzungsstrategie in gesellschaftlich und politisch „brisanten“ Zeiten nicht unmodern werden.

Bis auf wenige Ausnahmen führte eine kollektive Akzeptanz einer „effizienten“, technisch perfekt zu organisierenden „Lösung“ politischer Probleme, besonders durch die Beamten, die auf administrativer Eben die „AUSSIEDLUNG“  (Endlösung) auf legale Weise minutiös vorbereiteten und ausführten, zur Vernichtung der ideologisch Stigmatisierten.

Die Sprache wurde in deren Dienst genommen und  entsprechend funktionalisiert:
für die Deportation steht „AUSSIEDLUNG“, für die Massenvernichtung „ENDLÖSUNG“.

Die Auswirkungen der NS-Ideologie, d.h. die Flucht und Vernichtung von Millionen von Menschen, bewogen  die Gründungsväter der Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetzt das persönliche Recht auf Asyl für politische Verfolgte im Artikel 16 zu verankern. Doch scheint dieser Artikel heute vergessen und wiederum eine Vernichtungsstrategie am Werk zu sein, die an den technisch hochgerüsteten Grenzen Europas, die zu Tausenden ertrinkenden Flüchtlinge wieder zu spüren bekommen. 

So sind die Worte Karl Jaspers ungebrochen aktuell:
„Das, was geschah, muss eine Warnung sein. Es zu vergessen, ist ein Vergehen. Es muss fortwährend in unserer Erinnerung leben. Es war möglich, dass es geschah, und es ist möglich, dass es wieder geschieht.  Davon zu wissen allein kann dies verhindern.“ 6 

Dr. Iris Maria Gniosdorsch
Frankfurt am Main

1992/2014

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